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Zwei-Minuten-Geschichten

An dem Morgen, an dem sie angewiesen wurde, ihr bisheriges Leben aufzulösen, wartete Susanne vergeblich auf das Tram Nummer 9. Die Schulkinder waren gekommen und wieder gegangen. Frauen und Männer, frisch duftend mit gebügelten Blusen, Hemden und Lederschuhen gekleidet, hatten immer nervöser auf die Uhr schauend, den Weg schliesslich unter die eigenen Füsse genommen. Oder drängten sich in den vollgestopften Bus.

Nur Susanne blieb auf der Holzbank im Haltestellenhäuschen sitzen. Niemand hatte sie bemerkt. Das geschah immer öfters. Je älter sie wurde, umso unsichtbarer fühlte sie sich. Wären da nicht noch ihre drei Söhne gewesen, die sie gelegentlich anriefen. Sie hätte sich in Luft aufgelöst. Doch so einfach war das nicht. Nicht in einem Land, in dem ein Mensch an manchen Orten von der Wiege bis zu Bahre nicht mehr war, als eine Alters- und Hinterbliebenenversicherungsnummer mit 13 Ziffern. Da verschwand niemand einfach so!

Nicht bevor er sachgerecht alle offene Rechnungen und die prozentuale Steuerschuld von der mageren Rente bezahlt hatte. «Wie gut, ist meinem Emil der heutige Tag erspart geblieben», dachte sie. Sie war frühmorgens nach draussen gelaufen. Langsam, mit kleinen Pausen am Treppengeländer. Vorbei an ihrem roten Damenvelo, mit dem sie früher so gerne durch die Stadt gefahren war. Als sie endlich beim Briefkasten ankam, da fand sie darin nur Werbung. Ein Steuerberater bot seine Dienste an. Und beim Lieferservice gab es nun auch vegane Pizzas. Doch dann entdeckte Susanne ganz hinten im Fach ein amtliches Kuvert: Frau Susanne Studer, Tulpenweg 12, 8051 Schwammedingen. Absender: Notariats- und Konkursamt der Stadt Zürich. Sie musste es nicht öffnen, um zu wissen, was drin stand.

Seraina Kobler